Nein, kein Kuss!”, sagt Amelie streng. Die Zehnjährige hockt auf einer Wolldecke im Klassenzimmer der 6 c, ihr Schulheft auf den Knien, zwei Klassenkameraden neben und einen Hund vor sich.

Mathe am Friedrich-Schiller-Gymnasium in Marbach am Neckar, mit 2400 Schülern eines der größten Gymnasien in Deutschland. Amelie, Mika und Philipp examinieren Storm, den Hund ihrer Lehrerin, einen Deutschen Pinscher mit schwarz-braunem Kurzhaar und hellwachem Blick. „Rücken: 51,5 Zentimeter”, schreibt Amelie in ihr Heft, während andere Schüler das Prozentrechnen üben und Gambit, der zweite Hund von Frau Cofalik, auf einer Decke vor der Tafel schläft. „Leise!” steht auf einem roten Blatt Papier an der Wand. Und tatsächlich ist es ungewöhnlich ruhig in der 6 c. Die Tiere gelten als Zaubermittel gegen nahezu alles

 

Es ist fast acht Jahre her, dass Andrea Cofalik zum ersten Mal mit ihren Tieren in den Matheunterricht kam, inzwischen sind Storm und Gambit mehrmals in der Woche da. Gleich, in der fünften Klasse, lernen Andrea Cofaliks Schüler, wie sie einen Vierbeiner verstehen können und er sie. „Je ruhiger du bist, desto ruhiger wird der Hund”, erklärt die Lehrerin beispielsweise. Und dass Hundeohren siebenmal empfindlicher sind als die Ohren von Menschen. Weshalb wenn der Lärmpegel im Klassenzimmer ansteigt, findet sich immer irgendein Kind, das mahnt: „Pssst, es ist zu laut!”

„Hundegestützte Pädagogik” gibt es an immer mehr Schulen. Über 350 Lehrkräfte, vor allem Frauen, arbeiten inzwischen mit ihrem speziell dafür ausgebildeten Hund als Lernhelfer. Die Tiere gelten als Zaubermittel gegen nahezu alles, was dem Lernen im Wege steht: Hyperaktivität, Sprachstörungen, Einsamkeit, Ängste, Langeweile, Mobbing. Manche Eltern fragen sich anfangs, ob ihre Kinder wirklich lesen und schreiben, wenn ihnen ein Hund um die Beine streicht. Doch höchstens in den ersten Stunden gebe es „Gaudi”, sagt Andrea Cofalik. „Danach sind die Schüler ruhiger, netter – und sie schaffen mehr. ”

Wie das funktioniert, kann Fabian erklären, der an diesem Vormittag in der letzten Reihe sitzt. „Irgendwie tut es gut, Vertrauen zu bekommen. Storm beruhigt mich”, sagt Fabian. „Ich kann mich besser konzentrieren und mache weniger Fehler.”

Die Anwesenheit eines Tiers verändere die Atmosphäre, sagt auch die Erlanger Psychologin Andrea Beetz. Sie erforscht die Wirkung von Hunden auf den Menschen. In Gegenwart ruhiger Tiere sinke der Blutdruck, Aggressionen nähmen ab. Unbewusst reagiere der Mensch wie vor Jahrtausenden. „Ruhte ein Hund in der Nähe des Menschen, signalisierte das: Hier ist es sicher.”

Andrea Cofalik glaubt, dass Hunde darüber hinaus fast therapeutische Wirkung haben können. Storm zum Beispiel verfüge über ein feines Gespür „für Kinder, denen es nicht gut geht”. Einmal setzte der Pinscher sich eine ganze Stunde lang neben einen Neuntklässler. Später erfuhr die Lehrerin, dass die Mutter des Jungen im Sterben lag. „Ich hatte keinen Unterschied in seinem Verhalten bemerkt, der Hund aber schon.”

„Hände waschen! Von der Seite begrüßen!”

In der Peter-Härtling-Schule im hessischen Riedstadt bringt Grit Philippi jeden Freitag ihren Hund Willi mit in den Deutschunterricht und auch den Hundekorb aus weinrotem Cordsamt und das zerkaute Kuscheltier. Willi, neun Jahre alt, kreiselt um die fünf Tische des Klassenraums. An der Schranktür hängen Regeln für den Umgang mit dem Besucher: „Hände waschen! Von der Seite begrüßen! Nicht rufen! Nicht rennen und springen! Nicht füttern! Ruheplatz bitte nicht stören! Brote einpacken!”

Etwa 100 Kinder besuchen die Schule, allesamt Patienten der benachbarten Kinder- und Jugendpsychiatrie. Manche kommen nur für wenige Wochen, andere für ein halbes Jahr – für Willi eine Herausforderung. „Die Gruppendynamik ändert sich, die Gerüche ändern sich, der Hund nimmt das ganz genau wahr”, sagt Grit Philippi.

Den 13-jährigen Max* kennt Willi schon eine ganze Weile. Max hat Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Schon in der Grundschule fühlte er sich wegen seiner Schreibfehler als Außenseiter, die anderen machten sich über ihn lustig, auch in der Realschule sah er sich ausgegrenzt, jedes Vorlesen wurde zur Qual. Er sei immer stiller geworden, erzählt seine Mutter. „Irgendwann war er nicht mehr sichtbar.” Damals sagte er Sätze wie: „Ich kann nichts mehr.”

Weil er zusehends depressiver wurde, wiesen ihn die Ärzte in die Kinderpsychiatrie ein. Die konnte er inzwischen verlassen, aber er besucht weiterhin die Klinikschule – wo Grit Philippi weiß, wie sie ihn zum Lesen motiviert. Er soll Willi „ins Körbchen lesen”, zum Einschlafen bringen. Doch der Hund packt sein Kuscheltier, schlüpft unter den Tischen hindurch, sucht die Nähe von Max. Der Junge krault ihn. Plötzlich ruft Max: „Oh, Bioverseuchung!”, und zieht sich sein T-Shirt über die Nase. Hunde bringen einen Hauch Anarchie ins Klassenzimmer, wenn sie schmatzen, rülpsen, pupsen. Als der Raum gelüftet ist, liest Max vor. „Hundewelpen sind sogenannte Nesthocker …” Er liest gut verständlich und flüssig. Ein großer Fortschritt im Vergleich zum vorigen Jahr.

Der Hund tapst über den Linoleumfußboden, steigt in seinen Korb, bettet seinen Kopf auf den Rand und fixiert den Jungen. Langsam sinken seine Augenlider herab. „Er hat keinen Bock mehr”, vermutet Max. „Nein”, erklärt Grit Philippi, „er fühlt sich sicher. Er signalisiert: Jetzt kann ich mich entspannen. Er ist doch in seiner Schule. Hast du dich in deiner Schule nicht sicher gefühlt?” „Nein”, sagt Max. „In der Schule ist man nie sicher.”

Für Hunde tun die Schüler fast alles

Dass Hunde gerade bei Kindern mit Leseproblemen hilfreich sein können, hat auch Andrea Beetz festgestellt. Sie verglich die Leseleistung von Schülern, die regelmäßig einem Stoffhund vorlasen, mit der von anderen Kindern, die ein lebendiges Tier zur Seite hatten. Die waren selbst Monate nach der Versuchszeit noch besser. „Sie haben angefangen, aus eigenem Antrieb zu lesen”, sagt Beetz. Die Kinder mit dem Stoffhund hingegen verloren rasch wieder die Lust.

Selbst Kinder mit Bindungsstörungen, die wenig Empathie für andere zeigen, werden im Zusammenspiel mit Tieren offener. „Mit dem Hund haben sie Mitgefühl, sie weisen mich zum Beispiel drauf hin, wenn er mal dringend raus muss”, sagt Grit Philippi. In acht Jahren Unterricht mit Willi an der Seite habe sie lediglich zwei Schüler gehabt, bei denen das Tier nichts ausrichten konnte – „die hatten eine Depression, die sie aggressiv auslebten. Ihnen war es offensichtlich egal, ob der Hund dabei ist oder nicht.”

Bei den meisten Kindern aber gilt: Für einen Hund tun sie fast alles. Als Andrea Cofalik in ihrer Klasse eine Gruppe von verfeindeten „Krawallbrüdern” hatte, gab sie ihnen den Auftrag, sich eine Zirkusnummer mit Hund auszudenken. Die Kinder entschieden sich für eine Menschenpyramide, an deren Spitze der Hund stehen sollte. Es dauerte ein paar Stunden, bis es endlich klappte, dass Storm sie alle unter sich hatte. Aber danach war es für den Rest des Schuljahrs mit den Kämpfen vorbei.

 

Nach Ingrid Eißele, Stern.de 16.09.2017


Vélemény, hozzászólás?

Facebook: